Mehr als die Hälfte aller deutschen Freelancer wollen auswandern

Deutschland verliert seine Fachkräfte: 68 % der Freelancer wollen weg

16. August 2024 / 7 Min /
Freelancer wollen auswandern - das sind die Gründe

Deutschland ist auch heute noch kein freelancing-freundliches Land. Während Arbeitgeber gefördert und Arbeitnehmer abgesichert werden, bremst die Politik Freelancer durch bürokratische Hürden und das Risiko auf Scheinselbstständigkeit aus. Deshalb haben bereits 24 % der von uns befragten Freelancer die Koffer gepackt oder sind schon ausgewandert. 54 % zieht diese Option zumindest in Betracht. Ob die Politik vorhat, etwas gegen das Abwandern der deutschen Fachkräfte zu unternehmen, klären wir in diesem Artikel.

Auftrags-Bremse Scheinselbstständigkeit

Für 61 % der Freelancer in Deutschland ist laut Freelancer-Kompass das ständige Damoklesschwert der Scheinselbstständigkeit eine der größten Herausforderungen. Obwohl die Politik Freelancer mit dieser Regelung nur vor Ausbeutung schützen möchte, bremst sie damit sowohl Unternehmen als auch Freelancer gleichermaßen aus.

Ein Beispiel: Das Bundessozialgericht hat im April 2024 erneut ein Urteil gefällt, das die strenge Linie der Rechtsprechung in Bezug auf Freelancer bestätigt. Dabei ging es um einen Piloten, der im Rahmen eines Dienstvertrages für ein Unternehmen tätig war. Das Gericht entschied, dass diese Tätigkeit aufgrund der fehlenden eigenen Arbeitsmittel und der engen Eingliederung in den Betrieb als abhängige Beschäftigung und somit als scheinselbstständig einzustufen ist.

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Die Konsequenzen für Auftraggeber sind erheblich: Sie müssen rückwirkend Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen und können sogar strafrechtlich belangt werden. Das führt dazu, dass viele Unternehmen trotz des Fachkräftemangels und der Vorteile, die Freelancer bieten könnten, weiterhin zögern, auf diese Arbeitsform zurückzugreifen.

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Besonders die geringe Rechtssicherheit mindert die Bereitschaft vieler Unternehmen, trotz ihres akuten Bedarfs mit Freelancern zusammenzuarbeiten. Zu groß ist die Angst, nach einer Betriebsprüfung rückwirkend für mehrere Jahre Sozialabgaben nachzahlen zu müssen.

Thomas Maas
CEO von freelancermap

Folgen der rechtlichen Unsicherheit

Für Freelancer sind die Folgen prekär: Fürchten sich mehr Unternehmen vor der Statusfeststellung „Scheinselbstständigkeit“ geht die Auftragslage für Freelancer weiterhin zurück, was wiederum die Existenzgrundlage von Freiberuflern gefährdet. Andreas Lutz, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Gründer und Selbstständigen Deutschland e. V. (VGSD) bestätigt: „So werden Aufträge beendet und an Selbstständige im Ausland vergeben.“

hinweis

Laut Freelancer-Kompass 2024 erwarten 23 % der Freelancer für kommendes Jahr eine schlechtere Auftragslage. Im Jahr zuvor waren es noch lediglich 13 %.

Auch eine Reform des Statusfeststellungsverfahrens bietet nicht mehr Sicherheit

Anstatt für sichere Verhältnisse zu sorgen, wann nun eine Scheinselbstständigkeit vorliegt und wann nicht, hörten wir von der politischen Seite nur einen Verweis auf die Reform des Statusfeststellungsverfahrens:

Dr. Rolf Schmachtenberg, Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Mit der letzten Reform besteht seit 1. April 2022 die Möglichkeit, dass Auftragnehmer und Auftraggeber schon im Vorfeld eine verbindliche Entscheidung der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund einholen und damit frühzeitig Rechtssicherheit darüber zu erhalten, ob sozialversicherungsrechtlich eine abhängige Beschäftigung oder eine selbstständige Tätigkeit vorliegt.

Dr. Rolf Schmachtenberg
Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Andreas Lutz (VGSD) erkennt in der Reform mehr Rückschritt als echten Fortschritt: „Sie hat zu mehr Rechtsunsicherheit, längeren und bürokratischeren Verfahren geführt.“ Das Problem ist: Die Beurteilung, ob man scheinselbstständig ist oder nicht, erfolgt noch anhand von Negativkriterien.

Jens Teutrine (FDP) findet sogar, dass die deutsche Rentenversicherung nicht die geeignetste Institution sei, um eine solch wichtige Einschätzung abgeben zu können. Seiner Ansicht nach könnten beispielsweise die Finanzämter eine sinnvollere Prüfung durchführen könnten. Schließlich freut sich die eine Seite über mehr Beitragszahler, während die andere Seite schon heute prüft, ob jemand als Freiberufler tätig ist oder nicht.

Diese Ansicht vertritt auch Erhard Grundl, Mitglied der Grünen: „Eigentlich hätten wir mit der Kleinunternehmerregelung bereits ein gesetzlich festgelegtes Kriterium.“ Er macht zudem deutlich, wie wichtig Freelancing für die Wirtschaftskraft Deutschlands ist:

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Selbständigkeit ist ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaftskraft unseres Landes. Es ist dabei wichtig, eine klare Abgrenzung zur Scheinselbständigkeit festzulegen. Weisungsgebundenheit verträgt sich nicht mit der Selbstständigkeit. Wichtig ist, dass sich die Rentenversicherung bei ihrer Überprüfung nachvollziehbarer Kriterien bedient.

Erhard Grundl
Grünen-Fraktion

Pflicht zur Rentenversicherung beseitigt das Problem der Scheinselbstständigkeit nicht

Auf der Freelance-Unlocked im Mai 2024, der ersten offiziellen Freelancer-Konferenz Deutschlands, stellte Dr. Rolf Schmachtenberg die Pläne der Bundesregierung zur Rentenversicherungspflicht von Selbstständigen vor. Einige Inhalte seines Vortrags waren:

  • 20 % der Solo-Selbstständigen in Deutschland sind Altersarmutsgefährdet. Dagegen will die Bundesregierung mit der Altersvorsorgepflicht (AV) vorgehen.
  • Es ist geplant, dass das Antragswesen digitalisiert und mit weniger bürokratischem Aufwand abläuft.
  • Es soll eine Wahlfreiheit geben. Diese bezieht sich aber nicht darauf, ob man einzahlen will oder nicht, sondern darauf, welche Zusatzprodukte man haben möchte – oder eben keine.
  • Die Einführung der Altersvorsorgepflicht für Selbstständige ist in Arbeit, allerdings mahlt die Mühle der Bürokratie nur langsam.
  • Als wäre die Höhe des Pflichtbeitrags zur Krankenversicherung nicht hoch genug, wird ein Grundbeitrag zur Pflicht-Rentenversicherung von 600 Euro (und mehr) angedacht.
  • Das Risiko Scheinselbstständigkeit wird durch eine verpflichtende Rentenversicherung für Solo-Selbstständige nicht abgeschafft, sondern höchstens abgemildert.

Hier den ganzen Vortrag ansehen:

Gegen die Renten-Reform sprechen sich nicht nur Freelancer aus, sondern auch die Politik selbst. Dieter Falk ist bereits seit der Jahrtausendwende Freelancer und ist zudem Beisitzer im Bundesvorstand der Arbeitsgemeinschaft der Selbstständigen (AGS) in der SPD.

Er betont, dass Freiberufler, die bereits den im Freelancer-Kompass erwähnten Durchschnitts-Stundensatz von 102 Euro (oder mehr) verdienen und pro Monat im Schnitt 1.100 Euro für ihre private Altersvorsorge zurücklegen können, nicht vom Staat vor Ausbeutung und Altersarmut geschützt werden müssten.

Natürlich gibt es auch zahlreiche Ausnahmen, die als Solo-Selbstständige nicht einmal das Existenzminimum erwirtschaften. Für diese Gruppe bräuchte es andere Lösungen als für die Gutverdiener.

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Wer dann sehr wenig verdient und Sozialleistungen bekommen muss, erhält letztlich jene Leistungen von der Allgemeinheit, die der Unternehmer ihm vorenthalten hat.

Dieter Falk
SPD

Größtes Freelancer-Problem ist die Bürokratie

Nicht nur die Scheinselbstständigkeit hemmt das Freelancer-Dasein in Deutschland. Den ansässigen Freiberuflern macht laut Freelancer-Kompass besonders die Bürokratie zu schaffen (69 %). Die freiberufliche Expertin für digitales Marketing, Olivia Olivares, verdeutlicht: „Es wird immer schwieriger, selbstständig zu sein. Man verliert schon den Überblick über die ganzen Regelungen und Gesetze.“

Solo-Selbstständige in Deutschland müssen sich selbst um die Abgabe ihrer Krankenversicherung und Pflegeversicherung kümmern, regeln ihre Buchhaltung eigenhändig, zahlen hohe Steuern und Sozialabgaben und sollen dabei auch noch über Gesetzesänderungen und Reformen auf dem Laufenden bleiben. Gerade Letzteres sorgt nur zu längeren, bürokratischen Verfahren und zu mehr Rechtsunsicherheit, wie Dr. Andreas Lutz vom Verband der Gründer und Selbstständigen kritisiert.

Auch die deutsche Bürokratie macht die Arbeit im Ausland für viele Freelancer zunehmend attraktiver. Eine von uns durchgeführte Befragung zum Thema „Abwanderung von Freelancern“ ergab:

  • 52 % erwarten steuerliche Vorteile durch die Arbeit im Ausland
  • 49 % wollen aufgrund der deutschen Bürokratie abwandern
  • 42 % sehen im Ausland eine geringere Gefahr der Scheinselbstständigkeit
  • 42 % sind der Meinung, dass woanders bessere Lebensbedingungen auf sie warten
  • 21 % nutzen die Arbeit im Ausland als Chance, um ihren Horizont zu erweitern

Seitens der Politik fehlt nicht nur Unterstützung, sondern auch Verständnis

Die Gründe für den Freelancer-Exodus sind vielfältig und zeigen auf, wie dringlich Reformen in diesem Bereich sind. Auch der Politik sind die Probleme der Freiberufler in Deutschland bewusst, konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation lassen allerdings noch lange auf sich warten. Jens Teutrine, Mitglied des Deutschen Bundestages (FDP) sieht vor allem ein grundlegendes kulturelles Problem hierzulande:

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Die Selbstständigkeit wird als Beschäftigung zweiter Klasse betrachtet – das ist ein grundsätzliches kulturelles Problem.

Jens Teutrine
FDP

Fazit: Politik schafft nicht den richtigen Rahmen für Solo-Selbstständige

Das Ergebnis unserer Befragung ist also nicht verwunderlich: Deutsche Freelancer wandern bereits aus (10 %) oder planen eine Auswanderung konkret (14 %). Mehr als die Hälfte zieht einen Umzug ins Ausland in Betracht, sollte sich die politische Lage für Selbstständige in Deutschland nicht ändern (54 %).

Während Länder wie Portugal kräftig Fachkräfte anwerben (Non-Habitual-Resident-Steuerregime), fördert Deutschland eher die Abwanderung durch komplexe Regeln und Gesetze sowie eine unsichere Zukunft für Freelancer.

Grüne und CDU sind sich einig: Deutschland kann es sich nicht leisten, auf hoch qualifizierte Fachkräfte zu verzichten. Marc Biadacz von der CDU betont: „Da sind Arbeitsplätze und Menschen, die nicht verloren gehen dürfen.“ Die Politik müsste nur den Rahmen für Selbstständige schaffen. Wie genau der aussehen soll, weiß jedoch keine Partei so genau.

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Freelancer werden bei gesetzlichen Vorgaben nicht mitgedacht, es fehlt leider an Ansprechpartnern in den zuständigen Ministerien mit der für ein besseres Verständnis nötigen Spezialisierung auf diese Gruppe.

Dr. Andreas Lutz
Verband der Gründer und Selbstständigen (VGSD)

Entwickelt sich die politische Diskussion um Freelancer in den nächsten Jahren nicht zum Guten für Solo-Selbstständige, könnte laut der Einschätzung von Thomas Maas die Zahl der digitalen Nomaden bis 2035 auf eine Milliarde ansteigen. Bereits in diesem Jahr sind 57 % aller Freelancer vollständig remote im Einsatz und damit schon jetzt unabhängig von ihrem Einsatzort – und von Deutschland.

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